Rede im Rahmen des Benefizkonzertes „Give Peace a Chance“ // Theater Bremen

von Yoel Gamzou

In 1963, kurz nach dem Mord vom Amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, sagte mein großes Vorbild, der amerikanische Dirigent und Komponist Leonard Bernstein folgender Satz in seiner Nachruf-Rede:

“So wird unsere Antwort zu Gewalt sein: Musik machen mit mehr Intensität, mit mehr Schönheit und mit mehr Hingabe als je zuvor”.

Ist das noch aktuell? Kann sich ein Künstler heutzutage leisten, sich zu Politischen Themen oder globale Ungerechtigkeiten nur so zu positionieren, in dem er Kunst mit mehr Hingabe macht? Was bedeutet eigentlich Haltung, und auf welche Ebene ist sie bei einem Künstler angesagt? Oder wird sogar verlangt? Und vor allem, ab wann ist die Kunst politisch? Und ab wann ist ein Künstler politisch?

Dieses Thema ist in unserer Zeit natürlich aktueller als je. Seitdem Russland diesen fürchterlichen Krieg gegen die Ukraine gestartet hat, sehen wir eine Kampagne auf der ganzen Welt, russische Künstler in die Verantwortung zu ziehen für die Taten ihres nicht mal legal gewählten Präsidenten. Diese Kampagne ist in den letzten Wochen extrem eskaliert – Russische Künstler werden überall, von Orchestern, Theatern, Museen, Galerien, Universitäten wahllos ausgeladen.

Es ist beeindruckend, berührend und enorm bewegend zu sehen, wie sich die Welt zusammen gerafft hat und sich vereinigt hat innerhalb wenigen Tagen, um eine klare Haltung gegen diesen Krieg zu zeigen. Dafür sind wir auch heute hier und es gibt viel Hoffnung. Es ist noch schöner und vor allem wichtiger zu sehen, wie viel reale Hilfsbereitschaft für die Ukraine und für ukrainische Flüchtlinge es gibt und was alles überall passiert, wie viel die Menschen bewegen, wie viel mobilisiert wird. Da bekommt man wirklich Gänsehaut.

Nur manchmal frage ich mich – wo beginnt die Sorge für die Opfer, die ukrainische Menschen die innerhalb wenigen Stunden ihre gesamte Existenz verloren haben – und wo beginnt unser Bedürfnis, immer ein „gut und böse“ zu haben; ein „richtig und falsch“; ein „schwarz und weiß“. Und vor allem dann das damit verbundene Bedürfnis, uns selbst auf der „richtigen“ Seite zu positionieren.

Der Moment der Empathie scheint bei uns allen ein recht wählerischer Vorgang zu sein, denn unsere Fähigkeit zu Mitgefühl hört in dem Moment auf, wo wir uns zu der richtigen Seite zählen wollen. Ambivalente Angelegenheiten waren für unsere Gesellschaft schon immer schwierig, allerdings in den letzten Jahren ist das schwarz-weiß denken noch viel radikaler geworden.

Ist man ein Gutmensch, ist man links, ist man progressiv, will man ethisch und moralisch “richtig” sein – dann hat man gegen Russland zu sein. Gegen Russen zu sein. Gegen alles russische zu sein. Möglichst stark, möglichst laut, möglichst provokant – möglichst absolut. Bloß keine Grautöne. Und so schnell landen wir bei der faschistischen Methodik und Sprache, bei der Verallgemeinerung von Menschen, die nach Ihrer Staatsbürgerschaft eingeordnet und daraufhin verurteilt werden.

Kurz nach dem der Krieg begonnen hat, fingen an viele meiner Kollegen sich gegen den Krieg zu positionieren. Und mir war klar, dass ich mir diese Frage auch stellen muss. Was muss heutzutage ein Künstler tun? Muss er reden? Muss er eine Pressemitteilung rausgeben wo er sagt, “ich bin gegen Krieg” oder “ich bin gegen Putin”? Ich fragte mich oft, muss ich ganz ehrlich gestehen, in wie weit meine Kollegen es für ihr Gewissen und für ihren Ruf und öffentliche Wahrnehmung tun – und in wie weit wirklich für die ukrainische Menschen. Mir war nicht ganz klar in wie weit und wem geholfen wird, in dem ein Dirigent in Bremen oder Paris oder London sich zum Krieg äußert.

Dann ging es aber los mit den russischen Künstlern… als es anfing mit denjenigen, die sich über Jahrzehnte als Anhängsel der russischen Regierung öffentlich profiliert haben, konnte ich es noch partiell verstehen. Andererseits habe ich mich schon gefragt – warum jetzt? Wo waren wir in den letzten 20 Jahren, als wir alle diese Menschen hofiert und immer beschäftigt haben? Als Putin sein Land ausgebeutet und sein Volk mißbraucht hat, als er Syrien bombardiert hat und Menschen in fremden Ländern vergiftete. Das schien uns dann nicht zu stören, die besagte Künstler wurden weltweit gefeiert – aber jetzt, jetzt sind diese Menschen innerhalb ein paar Tage persona-non-grata geworden.

Als die berühmte Sopranistin Anna Netrebko Ihr Statement gegen den Krieg abgegeben hat, hat Peter Gelb, Intendant des Metropolitan Opera in New York gesagt, die Äußerungen wären nicht “stark genug” gegen den Krieg.

Als Tugan Sokhiev sein Job als Chefdirigent des Bolshoi Theater in Moskau kündigte, hat es auch nicht gereicht – er hat trotzdem fast seine gesamte Engagements im Westen verloren. Es war also auch nicht genug, um auf der richtigen Seite zu sein.
Jedes mal dass ich lese, dass irgendeinen Politiker oder Intendant von einem russischen Künstler verlangt “sich sofort von Putin zu distanzieren”, frage ich mich, wie viele von diesen Menschen, hat je in Russland gelebt? Wie viele von diesen Menschen kennt die Zwänge, die es bedeutet, als Familienvater oder Familienmutter in Moskau zu arbeiten? Weiß überhaupt jemand hier im Westen, was es für einen russischen Künstler bedeutet, sich öffentlich gegen die russische Regierung zu positionieren?

Es bedeutet, dass er nie wieder in Russland arbeiten wird. Es bedeutet, dass seine Mutter oder Vater, die vielleicht alt sind und noch in Russland leben, nie gute Ärzte bekommen werden. Es bedeutet, dass seine Kinder die noch dort leben nicht in eine gute Schule kommen werden.

Wir sind so verwöhnt in unserem freien Deutschland. Hier schreien Menschen “Zensur” wenn sie Schwachsinn über Corona-Verschwörungstheorien nicht verbreiten dürfen. Und dann wird eine abgesagte Geburtstagsparty im Lockdown mit Anne Frank verglichen.

Wir haben einfach keine Ahnung, wir leben schon so lange in Frieden. Und uns geht es hier so gut. Alleine die Tatsache dass wir heute so eine Veranstaltung machen können, und frei unsere Haltung sprechen dürfen, ist so ein riesiges Privileg.

Die Haltung des Westen gegenüber russische Künstler zur Zeit spielt der Russische Regierung absolut in die Hände. Wie gefundenes Fressen kann Putin gegenüber seine verzweifelte Künstler behaupten, im Westen werden sie zensiert oder sind unerwünscht – in Russland wären sie willkommen. Das hat er doch immer behauptet! Und so schnell hat er ein manipuliertes Beweis für die gelogene Propaganda, die er seit Jahrzehnten verbreitet, dass der Westen ein Hexenjagd gegen Russland und Russen betreibt.

Und was gewinnen wir davon? Wir zerstören Menschen und Existenzen, wir stärken die propaganda-maschine eines Diktators und helfen, ein zynisches Opferbild aufzubauen. Gewonnen ist dadurch nichts. Wie es immer der Fall ist, wenn man Exampels statuieren will.
Letzte Woche rief mich an ein Intendant eines Orchesters wo ich demnächst auftrete, und fragte mich “wir sollen jetzt bestimmt kein Tchaikovsky mehr spielen, oder”. Ich habe gelacht und ginge davon aus, dass er das selbstverständlich nicht ernst meint.

Er war aber nicht der letzte. Die Anrufe häuften sich und ich fing langsam an zu begreifen, wie gravierend die Lage ist.

Hätten wir in 1945 aufhören sollen, Beethoven zu spielen und Goethe und Schiller und Kleist zu lesen? Nur weil die Deutsche Nationalsozialistische Regierung, 100 Jahre nach dem Tod dieser Künstler, die schlimmste Verbrechen der Weltgeschichte begangen hat?

Heinrich Heine hat den berühmten Satz gesagt “Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen”. Auch wenn man mit populistischen Übertreibungen vorsichtig umgehen sollte, der Weg dahin wird von Tag zu Tag kürzer.

Abgesehen davon, dass der aller größte Teil dieser Autoren und Komponisten Gerechtigkeit und Freiheitskämpfer waren, der entscheidende Punkt ist, dass Kunst zur ganzen Welt gehört. Wer sich je mit Beethoven oder Pushkin beschäftigt hat, weiß, dass es diesen Künstler um Freiheit ging. Aber noch viel entscheidender, ist dass Kunst immer und grundsätzlich der ganzen Menschheit gehört.

Kunst muss ein freier Raum bleiben, wo Menschen alles sagen dürfen, wo alle Sorten Musik immer gespielt werden darf. Wo man eine Regierung kritisieren darf. Wo man sich dem Gegenüber ein Spiegel stellen darf. Wo es unbequem werden darf, wo es schön sein darf. Wo auf jeden Fall ein gemeinsames Erlebnis Menschen immer, egal wie verschieden, zusammen bringen kann.

Und Musik ist nochmal etwas besonderer. Musik ist eine Sprache die keine Grenzen und keine Religion kennt. Musik ist ein Ort wo Menschen mit ihren Gefühlen in Verbindung gebracht werden können.

Musik ist eine Dimension wo Widersprüche Programm sind. Musik, und Kunst im allgemeinen, ist vor allem eine Welt, wo es kein richtig und falsch gibt.

Als Winston Churchill gefragt wurde, ob man die Subvensionen für die Kultur reduzieren sollte um das Kriegsetat zu erhöhen, sagte er: „wofür kämpfen wir dann?“.

Es sterben täglich unschuldige Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit, für unsere Werte als Europäer. Es leiden auch täglich Menschen in Russland, die von einem Despot seit Jahrzehnten ausgebeutet, belogen und in die Irre geführt werden.

Im deutschen Grundgesetz steht es, das man ein Mensch nie für seine Herkunft verurteilen oder diskriminieren dürfte. Dazu zählt es auch, unschuldige Menschen nicht die Existenz zu ruinieren um uns selbst zu beweisen, dass wir gut sind. Dass wir progressiv sind. Dass wir auf der richtigen Seite sind. Das Leben ist einfach ein bisschen komplizierter als richtig und falsch.

Man kann nur hoffen und beten dass der Krieg in der Ukraine möglichst schnell zu Ende ist. Und man kann nur hoffen, dass Putin und seine Regierung in die Verantwortung gezogen werden für ihre Verbrechen. Und man kann ebenso nur hoffen, dass unsere Regierungen ihre Schlüsse ziehen werden und in Zukunft nicht in dieselbe Abhängigkeiten von Russland rutschen werden, nur aus Gier und Bequemlichkeit.

Aber ich mache mir trotzdem Sorgen – wie sieht der Tag aus nach dem die letzte Bombe auf Kiev gefallen ist? In was für eine Gesellschaft wollen wir leben? Eine Gesellschaft in der es nur falsch und richtig gibt? Eine Gesellschaft wo es keine Debatten mehr gibt? Eine Gesellschaft in der man entweder auf der richtigen Seite ist, oder man wird sonst ge-cancellt?

Und wer bestimmt wo richtig beginnt und falsch aufhört? Die Macht, moralische Referenzen zu setzen und moralische Überlegenheit zu behaupten ist äußerst gefährlich und kann sehr schnell korrumpieren.

Wenn wir den Tod von so vielen unschuldigen Ukrainern nicht verraten wollen, müssen wir daran arbeiten, dass die Welt die danach kommt, ein besserer Ort ist, als sie vorher war. Wenn wir das Leid von so vielen unschuldigen Russen, die ebenso seit Jahrzehnten von korrupten und kriminellen Regierungen ausgebeutet werden, nicht verraten wollen – müssen wir sicher stellen, dass wir nicht genau so werden wie unsere Gegner. Weil Noch schlimmer als Tod ist sinnloser Tod.

Überall Demokratie zu propagieren ist recht einfach. Die Demokratie beginnt aber im eigenen denken. Und dann kann ich mich nur Lennon anschließen der im Song “Power to the People” sagt: “I gotta ask you comrades and brothers, How do you treat your own women back home”. Leben wir nach dem Moral Codex den wir propagieren?

Lass uns Kunst machen mit der größten Intensität, mit der größten Schönheit und der größten Hingabe die wir je kannten. Im Sinne der Empathie, im Sinne der Ambivalenz. Im Sinne der Graustufen. Lass uns in unserer Kunst politisch sein, nicht in unseren Slogans.

Lass uns mit unserer Kunst zeigen, dass alle Meinungen geäußert werden dürfen. Dass unsere Demokratie keine Angst hat vor Debatte. Dass wir keine Angst haben vor Widersprüche. Vor Grautönen. Vor Ambivalenzen.

Lass uns in unserer Kunst zeigen, dass unsere Freiheit unkaputtbar ist.

Lass uns zeigen, dass Kunstfreiheit nicht nur ein Begriff aus dem Grundgesetz ist der schön aussieht, sondern eine Realität, in der das andere und das verschiedene wirklich möglich ist – nicht nur ein gegenseitiges klopfen auf der Schulter im Sinne der empfundenen moralische Verwandtschaft und Überlegenheit.

Lass uns die wahre Freiheit in unserem Denken beginnen. Dann wird die Freiheit in der Realität folgen.

Yoel Gamzou, Bremen, 27.3.2022